PRAGMATISMUS STATT PERFEKTION - Drei Schritte in die neue deutsche Wirklichkeit
- Lothar Radermacher
- 30. Aug. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Deutschland war immer stolz auf seine technische Präzision, sein Organisationstalent, sein systematisches Denken, das tief in unserer Mentalität verankert war, nicht nur in geschäftlichen Angelegenheiten, sondern auch im Privaten.
Jeder spürt, dass diese Zeiten vorbei sind. In den Unternehmen des Landes mag immer noch Großartiges entwickelt, gefertigt und geleistet werden. Auf fast allen Gebieten sonst spüren wir Mangel, fehlende Flexibilität und Voraussicht, Gleichgültigkeit gegenüber Ergebnissen und dem Schicksal der Mitmenschen und der Gemeinschaften. Es gibt viel Grund, das zu beklagen und traurig über den Abstieg unseres Landes zu sein.
Der vorliegende Text geht von dem aus, was ist und sucht in drei ausgewählten Bereichen nach Übergangsmethoden und Lösungen, bis -vielleicht nach einer Generation- die Defizite durch die Demographie, die Probleme der Migration und der Mängel in Erziehung, Schule und Ausbildung behoben sind. Schneller werden diese Mammutaufgaben keineswegs zu lösen sein in einer Zeit äußerer Gefahr und zurückgehender Einnahmen aus Erwirtschaftetem.
In dieser Übergangsphase müssen wir uns von Traumtänzereien verabschieden, die von Geld, Zeit und Personal ausgehen, die nicht mehr da sind. Was nützt die beste Kindergarten-, und Schul- und Integrationsplanung, wenn es keine Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter gibt? Was sollen hochfliegende Ansprüche an klimagerechtes Bauen, wenn die Handwerker fehlen zu ihrer Umsetzung und die Menschen sich das nicht leisten können?
Wir sollten uns ehrlich machen. Dazu Vorschläge zu drei Bereichen, die von besonderer Bedeutung für das Funktionieren unseres Landes sind.
Arbeitswelt
Die bestehenden Strukturen der dualen Ausbildung und des Studiums haben sich im Wesentlichen bewährt. Über diese hinaus gelingt allerdings millionenfach die Integration in den Arbeitsmarkt nicht.In Zeiten, in denen selbst einfachste Helferarbeitsplätze in Industrie, Handwerk und Gastronomie nicht besetzt werden können und sich durch die Verrentung der Boomer-Generation ein eklatanter Arbeitskräftemangel abzeichnet, gelingt es uns nicht, Millionen von erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfängern und Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Lassen wir hier alle Fragen der mangelnden Gerechtigkeit gegenüber den mit geringen Löhnen Vollzeit Arbeitenden und der hohen Ausgaben der Transfersysteme beiseite, dann interessiert die Frage, ob nicht beste Absichten sehr schlechte Ergebnisse zur Folge haben? Darüber müssen wir reden.
Wer könnte abstrakt widersprechen, dass gute Deutschkenntnisse und die Informationen aus den Integrationskursen hilfreich sind? Aber dieses Denken führt uns zunehmend in Sackgassen, die sich unser Land im Interesse aller hier lebenden Menschen nicht mehr erlauben kann. Eine neue Untersuchung hat nachgewiesen, dass die allermeisten Teilnehmer dieser Kurse scheitern, der unglaubliche Aufwand an Personal, Organisation und Kosten, der hiermit verbunden ist, also vergebens ist.
Warum bieten wir den Menschen nicht stattdessen Arbeitsplätze an? Arbeit ist die beste Methode, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. In jeder größeren Pizzeria-Küche arbeiten Dutzende Menschen aus ebenso vielen Ländern zusammen, die oft kein vernünftiges Deutsch sprechen und dennoch zusammenarbeiten können, weil sie es wollen. Auf den Baustellen dasselbe Bild. Wir können auf die Arbeit dieser Menschen gar nicht verzichten, gleich, welche Kurse sie besucht haben oder über welches Deutschlevel sie nach dem Europäischen Referenzrahmen verfügen.
Unternehmen sollte es erlaubt sein, Bewerber ihrer Wahl aus dem Nicht-EU-Ausland einzustellen. Sie wissen, wen sie brauchen können.Ein befreundeter Moselwinzer berichtete, dass ihm die Einstellung eines Wein- Experten aus dem südafrikanischen Stellenbosch untersagt worden sei, weil dieser über keine B2-Deutschkenntnisse verfüge. Zugleich sei ein pakistanischer Mitarbeiter, der schlecht Deutsch spreche und keinen Alkohol trinke, bei den verschiedenen Angebotsstellen entlang der Mosel sein erfolgreichster Verkäufer. Der hat das Glück, bereits in Deutschland zu sein, und offensichtlich die Motivation, ohne jede formale Qualifikation, eigenes und gutes Geld zu verdienen.
Mit unseren Ansprüchen an Integration und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse behindern wir die bereitwilligen Menschen, hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen und damit ihren dringend gebrauchten Beitrag zum Gelingen der Gesellschaft zu leisten. Von den schädlichen Folgen für unsere Sozialsysteme und das Setzen von Fehlanreizen für die Nichtbereitwilligen ganz zu schweigen.
Schließlich: Machen wir es den Boomern so einfach wie möglich, parallel zur Rente zu arbeiten und ihr Wissen weiterzugeben. Warum nicht Befreiungen bei Sozialabgaben und Steuern? Ihre gesetzlichen Beiträge zu beidem haben sie über Jahrzehnte erbracht, warum nicht zum Nutzen aller großzügig sein bei ihrem Übergang zum Ruhestand? Es kommt nicht darauf an, ob das zu dem Regelsozial- und -steuersystem passt. Es kommt darauf an, dass diese Flexibilität zu guten Ergebnissen führt und wir auf diese Ergebnisse angewiesen sind.
Wohnungsmarkt
Alle wissen: Wegen der gestiegenen Bevölkerungszahl brauchen wir viele neue Wohnungen und verhindern doch mit immer neuen Regelungen zum Neubau und zur sogenannten energetischen Sanierung des Altbestandes genau das! Dabei ist der Abriss des Altbestandes eine energetische Katastrophe und der fehlende Neubau wegen der aus Angebotsmangel steigenden Mieten sozialpolitischer Sprengstoff.
Wir müssen uns entscheiden, und die Entscheidung kann im Interesse bezahlbaren Wohnraums doch nur die sein, es den Bürgern und Investoren nicht schwerer zu machen als nötig. Im Zweifel überlassen wir ihnen die Entscheidung, die doch selbst Interesse daran haben, Schritt für Schritt ihren Altbestand zu verbessern und auf energiegünstiges Bauen zu setzen. Lassen wir sie das in Ruhe machen, verzichten wir auf Vorschriften ebenso wie auf Subventionen! Unsere Nachbarländer, wie etwa Polen, machen uns vor, was auch ohne staatliche Regulierung geht. Den Menschen dort fliegt auch nicht das Dach um die Ohren. Versuchen wir nicht mehr, alles besser zu wissen und Lehrmeister zu sein. Unsere Lage und unsere Fähigkeiten rechtfertigen diesen Anspruch nicht.
Kommunale Selbstverwaltung
Die kommunale Selbstverwaltung befindet sich seit langem in einer schweren Krise. Wo das Grundgesetz einmal in Artikel 28 das hohe Lied der gemeindlichen Selbstverwaltung gesungen hat, ist der Gesang abgewürgt worden. Was kann vor Ort noch wirklich bestimmt werden von den frei gewählten Räten? Sie werden immer mehr zu Vollstreckungsorganen der staatlichen Bürokratie und können in der Regel keinen Spiel- oder Sportplatz mehr bauen, ohne ein Monstrum an Antragstellungen und Vorgaben. So wird Demokratie auf der Ebene, die die Menschen am unmittelbarsten erleben, ausgehöhlt. Die Zuwanderungswelle, die vom Bund gewollt oder mindestens akzeptiert wird, überfordert zudem die Gemeinden und bindet letzte Ressourcen an Geld, Zeit und Personal. Es bleibt kein Freiraum mehr für das, was kommunale Gestaltung ausmachen könnte.
In Rheinland-Pfalz, einem besonders schlecht regierten Bundesland, treten die ersten Bürgermeister mit ihren Ortsgemeinderäten aus Protest zurück, weil sie einerseits keinerlei Gestaltungsspielraum mehr haben und andererseits gezwungen werden sollen, die kommunalen Abgaben für ihre Bürger, denen sie nichts zu bieten haben, ins Unermessliche zu steigern. So wird Demokratie pervertiert!
Die Lösung kann darin bestehen, jeder einzelnen Gemeinde ein sicheres Budget zur Verfügung zu stellen und gesetzlich zu bestimmen, dass sie -zunächst- zehn Prozent des Budgets für freiwillige Aufgaben ausgeben muss. Dieser Anteil sollte in Zwei-Prozent-Schritten innerhalb von fünf Jahren auf zwanzig Prozent angehoben werden. Was an Geldmitteln vor Ort fehlt, muss das jeweilige Bundesland zuschießen, ohne sich in die Verwendung der Mittel einmischen zu dürfen.
Den Aufschrei von Bundes- und Landespolitikern, die diese Garantie gemeindlicher Autonomie kaum ertragen können und von lauter Risiken sprechen werden, müssen wir aushalten. Die Bürger vor Ort sollen an der Mittelverwendung teilhaben und entscheiden können. Das ist der Sinn dieses Vorschlages. Wenn ihre Vertreter schlechte Entscheidungen treffen, kann dies bei der nächsten Kommunalwahl an der Urne revidiert werden. Wir brauchen dieses Vertrauen in die Demokratie vor Ort. Bürgermeister, Landräte und Ratsversammlungen benötigen wieder Handlungsspielräume. Lassen wir sie dabei Fehler machen. So gravierend auswirken wie die großen und zahlreichen Fehler auf Bundesebene werden sich diese niemals.
Die Zeit der Perfektion ist vorbei. Wir schaffen das nicht mehr. Machen wir uns ehrlich, um die Zeit des Übergangs zu einer hoffentlich wieder besseren Zukunft im Interesse unserer Kinder so erträglich wie möglich zu gestalten. Lernen wir zu improvisieren und uns mit pragmatischen Lösungen zufrieden zu geben. Fangen wir in diesen drei Bereichen an. Es ist zwölf Uhr.
Bendorf-Sayn, den 30. August 2023
Lothar Radermacher.

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